Individualisierung in der Mittelstufe

Der Auftrag

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Jeder Schüler hat Stärken und Schwächen. Daher ist jeder Einzelne mit seinen Begabungen und seinen Defiziten aufmerksam zu fördern.  Schwächere Schüler und Schüler mit Behinderungen erfahren besondere Aufmerksamkeit und Förderung und – wenn sie die Anforderungen nicht erfüllen können – begleitende Unterstützung. (...) Begabte Schüler erfahren Aufmerksamkeit und Förderung.

Leitbild der katholischen Schulen in Trägerschaft des Erzbistums Paderborn. Paderborn 2010, S. 4-5

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Und er stellte ein Kind in ihre Mitte  - dieser Satz aus dem Evangelium nach Markus steht sehr bewusst am Anfang unseres Schulprogramms, denn er ist beides, Basis und Ziel unserer schulischen Arbeit.

Unsere Schülerinnen und Schüler bilden das Zentrum unserer Bemühungen und Überlegungen; an ihnen, ihren Bedürfnissen und ihren konkreten Lebenssituationen richten wir uns aus, ihnen wollen wir Wege weisen, sie wollen wir auf ihren Weg vorbereiten und sie in ihrer Schulzeit begleiten.

Sci Vias - Wisse die Wege. Schulprogramm der Hildegardis-Schule 2015/16, S. 3

Qualitätsanalyse NRW

Aufgrund der eingesehenen Unterrichtssequenzen wird deutlich, dass die individuelle Förderung bisher weniger selbstver-ständlicher Teil des Alltagsunterricht als vielmehr Gegenstand vielfältiger gesonderter Fachangebote und außerunterrichtlicher Maßnahmen ist.

Qualitätsbericht der QA vom Mai 2012, S.10

Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen

Ich habe per se nichts gegen irgendeine Schulart. Mir ist nur wichtig, dass sich alle Schulformen, also auch das Gymnasium, weiter entwickeln und ihrem Bildungsauftrag gerecht werden. Das Gymnasium der Zukunft muss eine Schule sein, die für alle aufgenommenen Kinder Verantwortung übernimmt.

Sylvia Löhrmann in einem Interview mit der SZ vom 15.10.2010

Die Ausgangssituation

In einer Zeit, in der sich Schülerinnen und Schüler aller Schulformen in ihren individuellen Voraussetzungen, ihrer Motivation und nicht zuletzt ihrem Lerntempo zunehmend unterscheiden, fällt es den Gymnasien mit ihrem verkürzten achtjährigen Bildungsgang nicht immer leicht, ihrem Bildungsauftrag für alle Schülerinnen und Schüler angemessen nachzukommen. Das liegt primär an den veränderten gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten, die Schulen vor ganz neue Herausforderungen stellen. Es gilt neue Schülergruppen mit z.T. disparaten Begabungen und Ausbildungsvoraussetzungen zu beschulen. Dabei bildet die Forderung nach zieldifferenter Inklusion nur die Spitze eines Eisberges. Lerngruppen von der Grundschule bis zum Abiturjahrgang werden immer heterogener.

Die vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW beschlossene Schulzeit-verkürzung trifft ausschließlich das Gymnasium und wird aus unterschiedlichen Gründen in seinen Auswirkungen sehr kontrovers beurteilt.[1] Die nun zu beobachtende Auflösung der Haupt- und Realschulen zugunsten der Sekundar- bzw. Gesamtschulen ist ein weiteres Signal dafür, dass ein Paradigmenwechsel vom dreigliedrigen zu einem tendenziell eingliedrigen Schulsystem durchaus gewollt ist.

Das Gymnasium gerät angesichts dieser gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten immer stärker in Legitimationszwänge. Unbestreitbar ist, dass vorhandene gymnasiale Strukturen optimiert oder verändert werden müssen, damit das Gymnasium als gleich-berechtigte Schulform seinem Bildungsauftrag und seiner Verantwortung für seine Schüler-innen und Schüler in vollem Umfang und auf hohem Niveau gerecht werden kann.

 

Die Überzeugung

Grundsätzlich lernen Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums zielgleich, denn ihre Schullaufbahn ist auf den Erwerb der Allgemeinen Hochschulreife gerichtet. Das heißt für die Hildegardis-Schule aber nicht zwingend, dass die Wege zum Abitur in der Schulform Gymnasium für alle gleich sein müssen.

Die Hildegardis-Schule fühlt sich seit langem der Individualisierung von Lernprozessen verpflichtet. Seit dem Schuljahr 2013/14 führt sie das landesweit einzigartige Schulentwick-lungsvorhaben Individualisierung von Lernprozessen und Formaten der Leistungsüberprüfung in der Sekundarstufe II durch.

Nun soll die Individualisierung von Lernprozessen durch Maßnahmen der Differenzierung in der Mittelstufe ergänzt werden, um der erkennbaren Heterogenität gymnasialer Lerngruppen Rechnung zu tragen.

 

Der neue Weg: optimale Förderung durch weitere Differenzierung

Durch die ab der Jahrgangsstufe 7 einsetzende  Differenzierung der Lerngruppen, die durch die partielle Einrichtung eines mit der Sekundarstufe II vergleichbaren Kurssystems möglich wird, durchlaufen die Schülerinnen und Schüler nach wie vor den gymnasialen Bildungsgang, der also im Unterschied zu anderen Schulformen der Sekundarstufe I um ein Jahr verkürzt ist. Dennoch würde ein solches Angebot

  • eine bedarfsgerechtere Individualisierung auch im organisatorischen Rahmen der gymnasialen Mittelstufe zulassen,
  • eine institutionalisierte und effektive Form der Förderung und Forderung durch differenzierende und individualisierende Angebote für alle Schülerinnen und Schüler darstellen,
  • leistungsstärkere und leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler durch die Bildung homogenerer Kurse gleichermaßen fördern,
  • zugleich die Integration von Flüchtlingskindern und Seiteneinsteigern anderer Schul-formen in das gymnasiale Regelsystem erleichtern,
  • alle Schülerinnen und Schüler trotz individualisierter Kurszuweisung vor identische Leistungsanforderungen stellen,
  • die sich in der Erprobungsstufe abzeichnende zunehmende Diskrepanz zwischen leistungsstarken und -schwächeren Schülerinnen und Schülern bis zum Beginn der Sekundarstufe II ohne zusätzliche außerunterrichtliche Fördermaßnahmen überwin-den helfen,
  • an den durchaus positiven Erfahrungen mit der Verkürzung der gymnasialen Schulzeit festhalten,
  • gleichzeitig den Bedenken und zum Teil ablehnenden Haltung von Eltern, Schülern und Lehrern gegenüber G8 bedingt Rechnung tragen.

In den Kurssystemen erhalten alle Schülerinnen und Schüler den in den Kernlehrplänen vorgeschriebenen Unterricht; die differenzierenden Kurse bereiten gleichermaßen auf den Besuch der gymnasialen Oberstufe vor und sind auch innerhalb ihres jeweiligen Leistungs-anspruches gleichwertig, d.h. die Beurteilung von Schülerleistungen erfolgt nach identischen Anforderungen und Kriterien.

Vielfalt fördernAllerdings unterscheidet sich der Unterricht in den Fächern des Kurssystems insofern von dem im Klassenverband, als die Individualität und die konkreten Bedürfnisse der jeweiligen Kursmitglieder durch die Bildung homogenerer Kurse in den Fächern Mathematik, Latein und Französisch noch besser berücksichtigt werden können. Besonders begabte und motivierte Schülerinnen und Schüler erhalten durch ein höheres Lerntempo zusätzlichen Lerninput, in diesem Zeitraum kann dem Bedürfnis anderer Schülerinnen und Schülern mit einem größeren Unterrichtsanteil von Übungs- und Vertiefungsphasen entsprochen werden.

Zusätzlich erfolgt eine weitere individualisierende Fördermaßnahme aller Schülerinnen und Schüler durch ein dreijähriges fakultatives jahrgangsübergreifendes Angebot in drei nach-mittäglichen Blöcken, das projekt- und anwendungsbezogen ist. Die Benotung dieser Angebote wird auf den Zeugnissen dokumentiert, ist aber nicht versetzungsrelevant.

Am Ende jedes Schuljahres wird durch die Versetzungskonferenz eine Einstufung der Schülerinnen und Schüler für das Kurssystem der betreffenden Fächer des kommenden Schuljahrs festgesetzt. Das Kurssystem 1 ist also abhängig von der Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler in beide Richtungen durchlässig.

Nach dem erfolgreichem Abschluss der Jahrgangsstufe 9 setzt sich der gymnasiale Bildungs-gang in der Sekundarstufe II in einem Kurssystem fort, das in der Qualifikationsphase durch Grund- und Leistungskurse weiterhin leistungsbezogene Differenzierungsmöglichkeiten bietet, dann aber auch durch die Einführung alternativer Leistungsformate einen noch stärkeren Akzent auf Individualisierung durch persönliche Interessen setzt.

Die so vorgenommene Individualisierung der Lernprozesse in der Mittelstufe ermöglicht eine passgenauere gymnasiale Beschulung und ist auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schüler abgestimmt. Sie schafft homogenere Lerngruppen, fördert gleicher-maßen Leistungsstarke und Leistungsschwächere und trägt auf unterschiedlicher Weise zur Bildungsgerechtigkeit bei.

Schließlich leistete die Hildegardis-Schule als private Ersatzschule einen weiteren Beitrag zur Schulentwicklung im Land NRW, wird der ministeriellen Forderung nach Weiterentwicklung des gymnasialen Bildungsganges gerecht, greift berechtigte Forderungen und Anregungen von Schülern, Eltern und Lehrern auf und dokumentiert die besonderen Möglichkeiten der Schulform Gymnasium innerhalb des nordrhein-westfälischen Schulsystems.

 

Individualisierung an der Hildegardis-Schule im Überblick

Oberstufe (E, Q1, Q2)
dreijährig, ggf. Möglichkeit zum Überspringen der E
 

Individualisierung durch

  • ein breites Kursangebot
  • zusätzliche Projektkurse
  • besondere Förderung von Seiteneinsteigern
  • gemeinsame Teilnahme am SEVO Individualisierung von Lernprozessen und Formaten der Leistungsüberprüfung

=> Individualisierung nach Interesse

 

Mittelstufe
Unterricht im Klassenverband 7-9 Unterricht im Kurssystem 7-9 Unterricht im Kurssystem 7-9 Unterricht im Kurssystem 8-9
Deutsch Mathematik Ev. Reliogionslehre Spanisch
Englisch Latein Kath. Religionslehre KuMuLi
Biologie Französisch        

 

   
Individualisierung nach Konfession
Robotik
Chemie      

 

   
Individualisierung nach Lerntyp
JuniorFirma
Physik    

 

   
Individualisierung nach Interesse
Geschichte
Politik
Geografie
Kunst
Musik
SciVi
Sport
 
Freiwilliger Unterricht im jahrgangsübergreifenden Kurssystem mit projektartigen, anwendungsbezogenen Angeboten:
  • Nachmittagsmaler
  • Orchester
  • Forschungslabor
  • Deutsch als Zweitsprache
  • Medien- und Präsentationskompetenz
  • Darstellendes Spiel
  • Basketball-Schulteam
  • ...
=> Individualisierung nach Interesse

   

Erprobungsstufe (5-6)
  • längere Phase des gemeinsamen Lernens
  • Erprobung der eigenen Fähigkeiten, Neigungen, Belastbarkeit
  • Feststellung des individuellen Lerntyps
  • Gewinnung einer validen Entscheidungsbasis für den weiteren individualisierten Bildungsgang

Wissenschaftliche Begleitung und Evaluation

Die wissenschaftliche Begleitung der individualisierten Mittelstufe obliegt dem Institut für Schule, Erziehungs- und Fachwissenschaften (ISEF) sowie einer von der Institutsleitung berufenen Steuergruppe. Diese ist verantwortlich für die Bereitstellung von Unter-stützungsangeboten, Weiterentwicklung des Bildungsganges und die Prozessdokumentation.

Dem Gremium gehören an:

  • Dr. Michael Gerhardts, Leiter des Instituts für Schule, Erziehungs- und Fachwissenschaften (ISEF)
  • OStD‘ i.K. Eva Jansen, Erzbistum Paderborn
  • LRSD Thomas Daub, Bezirksregierung Arnsberg
  • StD i.E. Markus Plöger, Mittelstufenkoordinator der Hildegardis-Schule

Die wissenschaftliche Begleitung soll über eine ISEF-Grundlagenstudie erfolgen, die anwendungsbezogene Forschungsarbeit projektbezogen (weiter-)entwickelt und umfängliche Evaluation mit Zwischen- und Abschlussberichterstattung beinhaltet.


In Zeiten der Reformen ist es nicht sinnvoll irgendetwas zu tun, sondern das Richtige.[2]

 

[1] Vgl. dazu vor allem die von Prof. Dr. Dollase vorgelegten Ergebnisse der Umfrage innerhalb der Landes-elternschaft NRW e.V., veröffentlicht am 16.04.2016.

[2] Rainer Dollase: Nachschrift eines freien Vortrags auf der 25. Jahrestagung der katholischen Real-schullehrer/innen 2004